Geschichte der Kriegsdienstverweigerung
Hier finden Sie drei Grundsatzreferate anlässlich "60 Jahre Beratung zur Kriegsdienstverweigerung" 2016 in Bonn.
Mehr als zehn Millionen Deutsche waren in den Zeiten der Einberufung zur Allgemeinen Wehrpflicht in der Bundesrepublik Deutschland Soldaten in der Bundeswehr – nur die wenigsten davon freiwillig. Am 25. Juli 1956 trat das Wehrpflichtgesetz in Kraft, das jeden deutschen Mann zum Dienst mit der Waffe oder bei Verweigerung aus Gewissensgründen zu einem zivilen Ersatzdienst verpflichtet. 55 Jahre später gehört die Wehrpflicht in Deutschland – vorübergehend - der Vergangenheit an: Zum 1. Juli 2011 beschloss das Bundeskabinett eine Aussetzung der Wehrpflicht. Für die beiden großen Kirchen aber begann die Zeit der deutschen Wehrpflichtarmee mit einer Niederlage:
„Sie waren für den 1. Juni 1956 eigens zu diesem Zweck vor den Ausschuss gebeten worden. Für die Evangelische und für die Katholische Kirche, erschienen die Beauftragten beider Konfessionen bei der Bundesregierung, die Prälaten Kunst und Böhler. Böhler hatte sich den Moraltheologen Professor Hirschmann mitgebracht“ (Der Spiegel, 18. Juli 1956).
Es ging um die Bestimmung des Grundgesetzes:
Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.
Die Bundesregierung wollte durch den Paragrafen 25 des von ihr entworfenen Wehrpflichtgesetzes diese Bestimmung außerordentlich einengen. Den Kriegsdienst sollte nur verweigern dürfen „wer sich aus grundsätzlicher religiöser oder sittlicher Überzeugung allgemein zur Gewaltlosigkeit in den Beziehungen der Staaten und Völker bekennt und deswegen den Kriegsdienst mit der Waffe verweigert“.
Die Vertreter beider Kirchen wandten sich gegen diese Fassung der CDU-beherrschten Regierung. Prälat Kunst sagte: „Der Regierungsentwurf hat sich für eine sehr enge, man kann vielleicht sogar sagen, die engst mögliche Fassung der Bestimmung des Kriegsdienstverweigerers aus Gewissensgründen entschlossen. Er trägt an keiner Stelle den von den Synoden der Evangelischen Kirche und sonst vorgetragenen Bitten Rechnung. Wir bedauern dies.“
Mit diesem „Spatz in der Hand“ arbeitet nun die Evangelische Friedensarbeit seit 60 Jahren in der Beratung und Schärfung des jeweiligen individuellen Gewissens und in der Beratung im konkreten Verfahren der Kriegsdienstverweigerung nach Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland.
„Die Gewissen zu beraten, zu schärfen und für ihren Schutz einzutreten, gehört zu den elementaren friedensethischen Aufgaben der Kirche,“ stellt die Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ aus dem Jahr 2007 unter Absatz (56) fest. Doch die Denkschrift hadert mit der engen Auslegung des Grundgesetzartikels durch das Wehrpflichtgesetz von 1956 – noch 51 Jahre danach: „Der gesetzliche Schutz der gewissensbestimmten Kriegsdienstverweigerung ist nicht auf die Position des prinzipiellen Pazifismus zu beschränken; er muss auch die situationsbezogene Kriegsdienstverweigerung umfassen, die sich bei der Gewissensbildung an ethischen Kriterien rechtserhaltenden Gewaltgebrauchs, an den Regeln des Völker- und Verfassungsrechts oder auch an politischen Überzeugungen orientiert“ heißt es in Absatz (62) der Denkschrift. Gespannt bin ich hier auf einen meiner Nachredner Herr Florian Pfaff, der genau dies thematisieren wird.
Kriegsdienstverweigerung – Befehlsverweigerung – Desertion, historisch und international betrachtet müssen diese Begriffe zusammen betrachtet werden. Im deutschen Kontext spielten die Erfahrungen aus zwei Weltkriegen eine entscheidende Rolle: 1946 nahmen die Länderverfassungen von Bayern, Berlin und Hessen Paragrafen auf, nach denen niemand gegen seinen Willen zum Militärdienst gezwungen werden dürfe, im April 1948 nahm dann der Parlamentarische Rat einen Satz in das 1949 verabschiedete Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland auf:
„Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“
Über die Anfänge der Kriegsdienstverweigerung in Westdeutschland werden wir gleich im Anschluss von Hendrik Meyer-Magister hören, danach über die frühe Geschichte der Bausoldaten in der DDR von Thomas Widera. Geprägt waren diese Anfänge jeweils auch von den Erfahrungen aus der Zeit des Nationalsozialistischen Regimes, in der seit 1933 pazifistische Organisationen verboten waren und deren Angehörige in Konzentrationslager kamen und viele davon ermordet wurden. Übrigens war die Desertion in Ländern, in denen Menschen zum Kriegsdienst gezwungen wurden, der Normalfall. Erst im Rahmen der europäischen Aufklärung entstand allmählich die Auffassung der Kriegsdienstverweigerung als Bürgerrecht. 1987 schließlich erkannte die Vollversammlung der Vereinten Nationen das Recht zur Kriegsdienstverweigerung als allgemeines Menschenrecht an.
Neben der Beratung von Kriegsdienstverweigerern – seit 1956 – entwickelte sich vor allem in den letzten 15 Jahren innerhalb der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK) im Verbund mit internationalen Organisationen eine internationale Menschenrechtsarbeit für dieses Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung. Gespannt bin ich in diesem Zusammenhang auf Mohamed Soliman am heutigen Nachmittag. Aufmerksam beobachtet die EAK übrigens auch die Situation von Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung in den unmittelbaren Nachbarländern. Wir alle wissen von der erst kürzlich wieder eingeführten Wehrpflicht in Litauen. Und solidarisch arbeitet sie auch für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine oder in Südkorea.
Als Friedensbeauftragter des Rates der EKD habe ich hier aber nicht nur für die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden zu sprechen, sondern für die Evangelische Friedensarbeit insgesamt. Im September letzten Jahres habe ich zusammen mit dem Bischof für die Evangelische Seelsorge in der Bundeswehr, Sigurd Rink, ein Eckpunktepapier aus Sicht evangelischer Ethik zum in Arbeit befindlichen Weißbuch veröffentlicht. Dort heißt es unter Punkt 9:
„Mit dem Prinzip der Inneren Führung, der Achtung der Gewissensfreiheit, dem Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung und dem Anspruch ethischer Ausbildung steht die Bundeswehr für hohe Standards. Die EKD appelliert an die Verantwortlichen, diese ethisch reflexiven, demokratischen Prinzipien weiterhin zu stärken, gerade auch angesichts zunehmend internationalisierter Handlungsbedingungen. Hierzu ist eine kontinuierliche ethische Bildung im Karriereverlauf unerlässlich.“
Die Bedeutung der Kriegsdienstverweigerung ist – solange die Einberufung zur Wehrpflicht ausgesetzt ist – zahlenmäßig gering. Doch es gibt nach wie vor Menschen, die von diesem Menschenrecht auch in Deutschland Gebrauch machen – als Reservisten, aber vor allem als Zeit- und Berufssoldatinnen und -soldaten. Dies stellt nicht nur hohe Ansprüche an die Professionalität der Beratung durch die EAK, sondern die de-facto-Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung im soldatischen Dienst ist ein Prüfstein für eine Parlamentsarmee in einer Demokratie. In der Realität landen viele abgelehnte Kriegsdienstverweigerer – vor allem aus Mangelverwendungen wie IT oder Medizin – vor den Verwaltungsgerichten. Hier ist es neue Aufgabe der EAK, diese Prozesse zu beobachten und die Durchsetzbarkeit des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung zu dokumentieren. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger der Evangelischen Seelsorge in der Bundeswehr werden nicht die spezialisierten Beratungsleistungen - wie die EAK es tut - anbieten können, doch ihnen kommt die nicht zu verkennende Aufgabe zu, mit ihren in der Regel guten Kontakten zu den Führungsoffizieren für deren Verständnis für die Situation von Soldatinnen und Soldaten in Gewissensnot zu werben und dieses einzufordern. Zu oft sind aktive Soldatinnen und Soldaten, die einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen, unverzüglich Praktiken ausgesetzt, die Mobbing gleichen und daher rühren, dass in weiten Kreisen der Truppe Kriegsdienstverweigerung als vorgeschobener Grund gilt, die Truppe zu verlassen.
Im Absatz (60) der bereits zitierten Denkschrift von 2007 heißt es: „Beide Wege, nicht nur der Waffenverzicht, sondern ebenso der Militärdienst setzen im Gewissen und voreinander verantwortete Entscheidungen voraus.“ Deshalb braucht es reife Menschen mit einem sorgsam gebildeten und abwägenden Gewissen, um sich zum Beruf der Soldatin oder des Soldaten zu entscheiden. Das Eckpunktepapier der EKD zum Weißbuch sagt in Punkt 9: „Als Arbeitgeberin muss die Bundeswehr die Lasten und Belastungen des Soldatenberufs in der Personalgewinnung realistisch darstellen. Eine Anwerbung von Minderjährigen muss ausgeschlossen werden.“ Morgen wird die Bundeswehr sich hier in Bonn auf dem Marktplatz – auch zum Zwecke der Nachwuchswerbung – präsentieren. Schwerpunkte sind Feuerlöschübungen der Bundeswehrfeuerwehr, Musik der angesehenen BigBand der Bundeswehr, ein Feldpostamt und Wissenschaft und Forschung. Eine solch harmlose und beschönigende Darstellung des Berufs als Soldatin oder Soldat darf nicht die Akzeptanz der Evangelischen Friedensarbeit finden. Soldatinnen und Soldaten sind nicht per se Mörderinnen und Mörder, aber Soldatinnen und Soldatinnen sind per se potentielle Kriegsteilnehmerinnen und -teilnehmer! Nur auf dieser Grundlage kann eine Gewissensentscheidung für diesen Beruf erwogen werden! Die Bundeswehr kann Feuerwehr und kann Post, die Bundeswehr aber ist weder Feuerwehr noch Post!
Evangelische Friedensarbeit, wie sie sich in der Konferenz für Friedensarbeit darstellt, umfasst ein breites Spektrum. Es gibt Radikalpazifistinnen und -pazifisten, weniger radikale Pazifistinnen und Pazifisten, und – ohne hier eine Polarisierung betreiben zu wollen, diejenigen, die nach dem „Vertrag der Bundesrepublik Deutschland mit der Evangelischen Kirche in Deutschland zur Regelung der evangelischen Militärseelsorge“ von 1957 Seelsorge an Soldatinnen und Soldaten leisten. Auch Außenstehende können sich wohl ohne Probleme vorstellen, dass in diesem Spektrum nicht immer Einigkeit herrscht. Doch alle brauchen sich als Herausforderung und Korrektiv.
Es gab in diesem Jahr einen bemerkenswerten Artikel in der Zeitschrift für Innere Führung der Bundeswehr. Dort bezeichnet der Autor – Fregattenkapitän und Dozent für Politische Bildung am Zentrum Innere Führung die Militärseelsorge als „Dienstleistung fürs Militär“. So versteht sich die Evangelische Seelsorge in der Bundeswehr gerade nicht, sondern nach Artikel 4 des Militärseelsorgevertrags ist die Aufgabe „der Dienst am Wort und Sakrament und die Seelsorge.“ Insofern ist es ein Dienst an den Menschen, die in der Bundeswehr ihren Dienst tun. Das wäre wohl der schlimmste Vorwurf, den man der Evangelischen Friedensarbeit in ihrer gesamten Breite machen könnte: Schmiermittel für Kriege zu sein. Damit ein solcher Vorwurf hoffentlich nie begründet sein möge, sollte man sich innerhalb der Evangelischen Friedensarbeit auch zukünftig auf die Finger schauen!
Damit komme ich zurück zum Anfang, „Gewissensbildung und Beratung von Kriegsdienstverweigerern als Auftrag der Evangelischen Kirche und ihrer Friedensarbeit“. Ich hoffe, ich konnte deutlich machen, dass die Bedeutung des Themas „Kriegsdienstverweigerung“ weder von der Höhe der Fallzahlen abhängig ist, noch an spezialisierte Institutionen wie die EAK-Beratungsteams gänzlich delegiert werden kann, sondern dass es um ein Menschenrecht geht, das die Evangelische Friedensarbeit als Ganzes prägt und dass dieses Menschenrecht als eines der prophetischen Elemente Evangelischer Friedenstheologie die Bindung an Gottes Wort in einer konkreten Situation bedeutet.
Die Verfassung der DDR von 1949 garantierte in Artikel 41 Absatz 1 allen Bürgern „die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit“ und das „Recht der Religionsgemeinschaften, zu den Lebensfragen des Volkes von ihrem Standpunkt aus Stellung zu nehmen“.1 Doch die Realität in der DDR sah anders aus. Staatliche Sanktionen verhinderten Gewissensfreiheit und Restriktionen kennzeichneten die Kirchenpolitik der alleinherrschenden Partei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Keines der Verfassungsrechte war einklagbar. Die 1968 geänderte Verfassung zeigte die Einschränkungen, wonach Gewissens- und Glaubensfreiheit lediglich gewährleistet seien. Zugleich manifestierte die SED ihren Führungsanspruch in der Verfassung.
Dessen ungeachtet beriefen sich Menschen in der DDR auf Glaubens- und Gewissensfreiheit und kollidierten dabei mit der Militärdoktrin der SED. Diese verlangte Streitkräfte zur Erhaltung des Friedens und die Einbeziehung aller Bürger in die Landesverteidigung. Dennoch wurde im Unterschied zur Bundeswehr die Nationale Volksarmee (NVA) bei ihrer Gründung 1956 als Freiwilligenarmee ausgegeben. Forderungen, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einzuräumen, konnte die SED-Führung zunächst unter Hinweis darauf zurückweisen. Bei Einführung der Wehrpflicht 1962 war sie allerdings entschlossen, keine Ausnahmen zuzulassen. Ihre Friedensideologie definierte die sozialistische Gesellschaftsordnung als friedfertig und diejenigen, die ihre Militärdoktrin nicht teilten, als Gegner des Friedens und des Sozialismus. Andererseits legte sich die SED-Führung in der Achtung der Gewissensfreiheit eine Selbstbindung auf. Überlegungen zur Verfolgung von Kriegsgegnern, Kriegsdienstverweigerern und Pazifisten im Nationalsozialismus, auch der Wunsch nach internationaler Anerkennung bewirkten ein differenziertes Vorgehen. Die Aufstellung von Baueinheiten in der Nationalen Volksarmee (NVA) seit Herbst 1964 ermöglichte allen Wehrpflichtigen, „die aus religiösen Anschauungen oder aus ähnlichen Gründen den Wehrdienst mit der Waffe“ ablehnten, einen waffenlosen Dienst.2
Nachfolgend wird die Bausoldatenanordnung in den historischen Kontext, in den der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), der evangelischen Landeskirchen in der DDR und der Gewissensbedenken von Bausoldaten gestellt. Auf spezielle Sachfragen wie die zum Gelöbnis, zum sogenannten 19. Monat, zur Forderung nach einem zivilen Ersatzdienst oder zu den Friedensdekaden kann in dieser Einführung zum Thema nicht eingegangen werden.3 Den Beitrag beschließt ein Ausblick mit einigen vergleichenden Aspekten zu Bausoldaten und Zivildienstleistenden bis 1989 in beiden deutschen Staaten.
I. Protest im Protestantismus?
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges existierte in Deutschland eine verbreitete Abneigung gegen den Krieg, dessen Schrecken die Menschen in der Bombardierung ihrer Städte am eigenen Leib verspürt hatten. Noch erblickten sie allgegenwärtige Zeichen der Verwüstung und Millionen betrauerten ihre verlorenen Angehörigen. Ihre Einstellung zu den Streitkräften war indes ambivalent; fehlende Zustimmung hieß nicht generelle Ablehnung des Militärischen, viel weniger noch Fundamentalpazifismus. Eine „Ohne-mich-Haltung“ charakterisierte die Stimmungslage. Herkömmlich wurde der Wehrdienst als „Schule der Männlichkeit“4 und als Sozialisationsinstanz hoch geschätzt, einer Beteiligung an Kriegen dagegen vehement widersprochen.5
In den Debatten der 1950er Jahre bei Einführung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik hatte die EKD klar die Unantastbarkeit des Gewissens eingefordert und eine ebenso eindeutige Position zum Kriegsdienst vermieden. Gleiches galt in Fragen der Rüstung und Wiederbewaffnung für die Meinungsvielfalt von Gläubigen und Kirchenleitungen in Ost und West.6 Christen fürchteten wie alle Menschen die Vernichtungskraft der Atomwaffen. Sie begrüßten die Entmilitarisierung und das Verbot von Streitkräften, doch das eigene Kriegserlebnis hatte nicht zu einer grundsätzlich kritischen Bewertung militärischer Gewaltanwendung geführt. Vor dem Hintergrund des Koreakriegs und der für möglich gehaltenen militärischen Intervention der Sowjetunion befürworteten viele die Rüstungsanstrengungen der Regierung.
Innerhalb der EKD, der bis zum Mauerbau 1961 gesamtdeutschen Institution, gab es unüberbrückbare Differenzen. Für die einen stand der „gerechte Krieg“, also ein Verteidigungskrieg, in Übereinstimmung mit Gottes Geboten; andere lehnten unter Berufung auf das neutestamentliche Tötungsverbot und die Bergpredigt jeden Krieg ab. Eine dritte Gruppe betrachtete ausschließlich die Anwendung von Massenvernichtungswaffen als Verstoß gegen das Evangelium. Für die EKD ging es vorrangig um die Tatsache, dass sich an der innerdeutschen Grenze deutsche Soldaten feindlich gegenüber standen.7 Das christliche Gewissen der Nachkriegszeit hatte somit keinen pazifistischen, sondern einen nationalen Kern.
Denk- und Argumentationsmuster einiger prominenter Kirchenführer zeigten eine beachtliche Resistenz gegen Selbstzweifel. Ingo Braecklein, der in der DDR mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Gold ausgezeichnete und vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) als Informant geführte Thüringer Landesbischof,8 versicherte, er habe, obwohl Mitglied in der NSDAP, dem Nationalsozialismus distanziert gegenübergestanden. Seine Beteiligung am Zweiten Weltkrieg idealisierte er rückblickend, ohne darüber nachzudenken, ob der Kriegsdienst Verbrechen begünstigt habe. Er verklärte soldatische Existenz zu Opferbereitschaft und verlieh dem Krieg einen höheren, über den irdischen Zweck hinausweisenden Sinn.9
Das Recht des Staates, von den Bürgern Wehrdienst zur Verteidigung des Landes zu verlangen, bestritt der Görlitzer Bischof Hans-Joachim Fränkel gleichfalls nicht – trotz seines Widerstands im Nationalsozialismus. 50 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sah Fränkel im „Einsatz des Lebens für das Vaterland“ eine „von Gott gegebene Aufgabe“: Der Militärdienst sei „unter dem Gesichtspunkt des Opfers für das Vaterland zu verstehen“.10 Ihm, der im Nationalsozialismus mehrmals verhaftet gewesen war und der Bekennenden Kirche angehörte, schien die Überlegung fern, jener Krieg könnte ein verbrecherischer Angriffskrieg gewesen sein.
Diese Äußerungen und die von anderen Amtsträgern sind nicht repräsentativ. Aber sie stammen von Persönlichkeiten der Kirche mit Vorbildwirkung und verweisen auf die Beständigkeit von handlungsleitenden Anschauungen. Nur wenige wie der Magdeburger Bischof Johannes Jänicke hatten zu einer radikalen pazifistischen Absage an jedes Militär gefunden. Weit entfernt davon, seine Einstellung zum Dogma zu erheben, bestand Jänicke auf einer gründlichen Prüfung des individuellen Gewissens, und verlangte von den Kirchen im Westen die Kündigung des Militärseelsorgevertrages.11 Er vertrat die Position einer Minderheit.
Glaubhaft ist die dem Greifswalder Bischof Friedrich-Wilhelm Krummacher durch einen MfS-Mitarbeiter zugeschriebene Aussage während eines Besuches bei Bausoldaten: Krummacher habe sich gefreut, „dass die anwesenden Bausoldaten schneidig aussahen, freudig und diszipliniert auftraten und nicht als Soldaten 2. Klasse anzusehen“ seien.12 Jedenfalls war die Hoffnung der Pazifisten, Totalverweigerer und Bausoldaten, bei den Bischöfen größere Unterstützung für ihren Wunsch eines zivilen Wehrersatzdienstes zu finden, Ausdruck einer gewissen Realitätsfremdheit. Denn die Vertreter jener evangelischen Landeskirchen, von denen sie jetzt Hilfe erwarteten, hatten wenige Jahre zuvor, 1958, eine Loyalitätserklärung abgegeben, worin sie der SED-Führung die Gesetzestreue der Christen und die Erfüllung aller staatsbürgerlichen Pflichten zusicherten. Das Kommuniqué besagte, dass die Kirche mit den Friedensbestrebungen der DDR-Regierung grundsätzlich übereinstimme.13 Diese Grundsätzlichkeit schloss die SED-Militärdoktrin ein und die staatlichen Repräsentanten erwarteten deswegen von allen Christen, dass sie entsprechend der 1962 geänderten Gesetzeslage der Wehrpflicht nachkamen.
Ebenso wie ein Teil der Bevölkerung bedauerten die evangelischen Bischöfe die Einführung der Wehrpflicht in der DDR. Nach der Verabschiedung des Wehrpflichtgesetzes erneuerten sie im Frühjahr 1962 gegenüber dem Vorsitzenden des Ministerrates der DDR ihre Bitte um den gesetzlichen Schutz der Wehrdienstverweigerer. In der Sache sprachen sie allein das Problem des Waffendienstes an und den Wunsch aus, dass künftig „Menschen nicht gegen ihren Glauben und ihr Gewissen gezwungen werden, an einer Waffenausbildung teilzunehmen, sondern Gelegenheit erhalten, auf andere Weise einen aktiven Beitrag zum Frieden und zur Versöhnung zu leisten“. In resignierendem Ton und ohne konkrete Vorstellungen vorgetragen, erhielten sie auf das Anliegen eine unerwartet zynische Antwort ihrer staatlichen Gesprächspartner: Die Wehrpflicht diene dem Frieden und gehöre zu den Pflichten „jedes christlichen und nichtchristlichen Bürgers, zumal dadurch die Erhaltung des Lebens der Bürger und auch des Dienstes der Kirche gesichert“ werde.14
Für den Soziologen Niklas Luhmann handelte die SED-Führung konsequent, wenn sie Andersdenkenden keine Gewissensfreiheit einräumte. Denn wer das Gewissen eines Menschen als innerweltliche Deutungsinstanz akzeptiert, muss, für die SED völlig ausgeschlossen, nonkonforme Auffassungen über die Gesellschaft zulassen.15 Die nach dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 veränderte innenpolitische Lage erlaubte die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht in der DDR. Im Bemühen, diese durchzusetzen, lehnte die SED-Führung eine verbindliche Regelung für alle Pazifisten ab, gleich ob sie Christen waren oder nicht. Trotzdem wollte sie unnötige Konfrontationen mit konfessionell gebundenen Bevölkerungsteilen vermeiden.
Ihre Ideologie schloss einen zivilen Ersatzdienst aus. Mit der Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR vom 7. September 1964 über die Aufstellung von Baueinheiten in der NVA schien ein Ausweg gefunden. Unsicherheit bezüglich der Motive veranlasste im Zusammenhang mit der laut Verfassung fortbestehenden und real eingeschränkten Gewissensfreiheit die interpretationsoffene Formulierung „aus religiösen Anschauungen oder aus ähnlichen Gründen“. Die Ergänzung „aus ähnlichen Gründen“ bezog sich auf die Gewissensfreiheit der Verfassung unter Vermeidung des Begriffs. Unausgesprochen gestattete die SED-Führung die individuelle Gewissensentscheidung, weil sie die damit verbundenen Risiken gering schätzte. Jeder Wehrpflichtige sollte mit seiner Entscheidung allein stehen und persönlich die Konsequenzen der Verweigerung des bewaffneten Wehrdienstes oder der Totalverweigerung tragen.16
Obwohl sich die Hoffnung auf ein Zivildienstgesetz wie in der Bundesrepublik nicht erfüllt hatte und das Konfliktpotential gesehen wurde, begrüßten die evangelischen Kirchen in der DDR in der Erwartung einer moderaten Praxis die Einrichtung der Baueinheiten. Das diente der Beruhigung von Gewissensbedenken. Damit trugen sie entscheidend zur Akzeptanz des waffenlosen Wehrdienstes unter Christen bei. Der Versuch der Militärführung aber, in den Baueinheiten Konflikte zu lösen und die Bausoldaten ruhig zu stellen, scheiterte. Der militärische Zweck ihrer Ausbildung und ihrer Arbeitsleistungen setzte sie andauernder Gewissensbedrängnis aus. Die in der Folge auftretenden Formen der Insubordination kannten die Offiziere nicht: Verweigerung des Gelöbnisses mit religiöser Argumentation, Auflehnung gegen die militärische Indoktrination, politischer und ideologiekritischer Widerspruch im Politunterricht, Ansprüche entgegen den befohlenen Arbeiten auf zivile Tätigkeiten, Forderungen von Adventisten zur Befreiung von Arbeitsverrichtungen am Samstag. Im Mai 1965 verweigerten acht Bausoldaten den Befehl zum Bau eines Schießplatzes. Die Militärführung ließ sie verhaften und verurteilen. Sie unternahm nichts, um die Konfrontation abzuwenden.17
Bereits im Herbst 1964 waren 159 Totalverweigerer verurteilt worden, unter ihnen 152 Zeugen Jehovas.18 Die Bausoldatenanordnung sah keine Rücksichtnahme auf die individuellen Gewissensprobleme Wehrpflichtiger vor, und die Bausoldaten verlangten die Umwandlung der gängigen Praxis in einen „zivilen Friedensdienst außerhalb der NVA“, zumindest jedoch einen „Einsatz [...] ausschließlich an zivilen Objekten“.19 Die Kirchenleitungen setzten sich nicht offensiv für einen waffenlosen Wehrdienst ein, lediglich Bischof Jänicke sprach sich dafür aus. Ein Arbeitskreis der Landeskirchen konzipierte 1965 eine Orientierungshilfe für die aktuelle Situation. Ende 1965 verabschiedete die Konferenz Evangelischer Kirchenleitungen in der DDR die Handreichung „Zum Friedensdienst der Kirche - Handreichung für die Seelsorge an Wehrpflichtigen“. Darin wurden die „Verweigerer, die im Straflager für ihren Gehorsam mit persönlichem Freiheitsverlust leidend bezahlen und auch die Bausoldaten, welche die Last nicht abreißender Gewissenfragen und Situationsentscheidungen übernehmen, deutlichere Zeugen des gegenwärtigen Friedensgebots“ genannt. Mit dieser zentralen Aussage leitete die Handreichung bei aller Uneinigkeit der beteiligten Bischöfe eine nachhaltige friedenspolitische Neupositionierung der evangelischen Kirchen der DDR ein,20 verbunden mit einer Rückbesinnung auf den ursprünglich politischen Inhalt des Begriffs Protestantismus und dessen temporärer Wiederaneignung:21 „… eine Bevorzugung der Waffenlosigkeit, die der gesamtdeutsche Protestantismus nach 1990 ausdrücklich nicht übernommen hat“.22
II. Die DDR-Bausoldaten
Die Baueinheiten der NVA existierten von 1964 bis 1989. Insgesamt wurden etwa 15 000 Bausoldaten eingezogen. Anfänglich zu jeweils einem Einberufungstermin alle 18 Monate nur wenig mehr als 200 Bausoldaten, „Spatensoldaten“ genannt nach dem Spatensymbol auf den Schulterklappen, stiegen die Zahlen nach einigen Jahren allmählich und in den letzten Jahren der DDR deutlich an. Schätzungen beziffern die bis 1989 für den Dienst in den Baueinheiten gemusterten Wehrpflichtigen mit 27 000.23
Trotz des Anstiegs der Gesamtzahlen handelte es sich bei den Bausoldaten und Totalverweigerern in der DDR stets um eine kleine Minderheit. Kontroversen und Spannungen kennzeichneten diese Jahre. Die Rahmenbedingungen wirkten unbeabsichtigt begünstigend bei der Entstehung einer Bausoldaten-Bewegung. In den Baueinheiten der NVA trafen Menschen aus der gesamten DDR zusammen, die sich unter anderen Umständen nicht kennen gelernt hätten. Viele von ihnen nutzten dies als Chance, von den Erfahrungen anderer Gleichgesinnter zu profitieren, und sie standen noch später in Verbindung zueinander. Die langen achtzehn Monate in kasernierter Enge, der tägliche Umgang, ein Übermaß an zwangsweise zusammen verbrachter Freizeit und nicht zuletzt die im Armeealltag erfahrene Diskriminierung führte zu solidarischem Verhalten und zu gemeinsamen Aktivitäten. Bausoldaten lernten, unter schwierigen Bedingungen eigene Standpunkte zu vertreten. Sie trainierten, in Diskussionen mit anderen Bausoldaten und gegenüber den Offizieren, die eigene Überzeugung zu überprüfen und Meinungen zu korrigieren. Die Solidaritätserfahrung bestärkte viele in der Absicht, die praktizierte passive Wehrdienstverweigerung in einen aktiven Friedensdienst zu transferieren. Indem sie das Recht der Glaubens- und Gewissensfreiheit bewusst in Anspruch nahmen, begannen sie sich von der Bevormundung staatlicher Interessenvertreter zu emanzipieren.24
Mehrheitlich befanden sich Spatensoldaten aus religiöser Überzeugung in einer weltanschaulichen Gegenposition zu einem der zentralen ideologischen Grundsätze der SED. SED-Führung, MfS und NVA-Offiziere erblickten in ihnen Staatsfeinde, ohne dass die Bausoldaten zunächst tatsächlich in politischer Opposition zum Staat gestanden hätten. Doch ihre Gewissensentscheidungen kollidierten wiederholt mit den Totalitätsansprüchen im Militär. Vor der Entlassung aus der NVA im April 1966 verabredeten die ersten Bausoldaten ihre weitere Zusammenarbeit innerhalb eines Arbeitskreises. Wichtigstes Ziel blieb das Bemühen um einen aktiven Friedensdienst, die Popularisierung ihres Anliegens und der Zusammenhalt der Bausoldaten untereinander.25 Der zentrale Arbeitskreis initiierte wenig später Regionalgruppen, die Grundform der dezentralen Friedensarbeit von überwiegend kirchlichen Laien. Sie diskutierten miteinander über Militarisierung in der DDR, den internationalen Rüstungswettlauf, und diejenigen, die ihren Bausoldatendienst absolviert hatten, berichteten von ihren Erfahrungen bei der NVA. Bei den Teilnehmern der Treffen verfestigte sich die Erkenntnis über die Unzulänglichkeit des Ersatzdienstes in den Baueinheiten.
Außerdem regten die ersten Bausoldaten die Gründung eines Friedensinstitutes der evangelischen Landeskirchen an. Wesentlich kleiner entstand 1969 das Studienreferat „Friedensfragen“ beim Bund der Evangelischen Kirchen, 1974 in die Theologische Studienabteilung eingegliedert. Hier verfasste der katholische Theologe Joachim Garstecki friedenspolitische Arbeitspapiere aus kirchlicher Perspektive mit theoretischen Grundlagen für die unabhängige Friedensbewegung der DDR. Der von der SED propagierte Klassenhass wies Christen immer wieder auf eklatante Defizite im DDR-Bildungs- und Erziehungswesen und auf dessen militaristische Ausrichtung hin, das Studienreferat erarbeitete Konzepte zu einer konkreten Friedenserziehung. In Kirchgemeinden entstanden Friedenskreise, wo teilweise interkonfessionell und nicht nur Menschen in religiöser Tradition ihre Vorstellungen zur Umformung des Wehrdienstes in einen aktiven Friedensdienst und zur Friedenserziehung formulierten, um den Gewaltkreislauf zu durchbrechen.26
Überregionale Bedeutung erlangten zwei seit 1973 beziehungsweise 1975 regelmäßig stattfindende Friedensseminare. Mit Beginn der 1980er Jahre trafen sich in den Kirchen von Königswalde bei Werdau und in einer Gemeinde in Meißen, beide Orte befinden sich in Sachsen, jährlich zweimal mehrere Hundert junge Menschen. Im kirchlichen Raum wurden Bausoldaten Multiplikatoren gewaltfreier Konfliktlösungsstrategien. Viele hielten während und nach der Ableistung ihres Wehrdienstes die Kontinuität der Friedensarbeit aufrecht, wie hier stellten Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter unter ihnen die erforderliche Infrastruktur zur Verfügung.27
1975 unternahm die Armeeführung mit der Neuregelung des Einsatzes der Bausoldaten einen Versuch zur Lösung der Konflikte und Kontroversen in den großen Baupionierbataillonen. Anders als zuvor wurden die Bausoldaten in kleinen Gruppen auf eine größere Anzahl von Militärobjekten verteilt. Die neuen Festlegungen reduzierten die Beteiligung von Bausoldaten an militärischen Bauvorhaben. Sie sollten nun die Straßen und Plätze in den Kasernen reinigen, Grünanlagen pflegen, Werterhaltungsarbeiten verrichten.28 In den anschließenden Zeitraum fällt auch der Übergang von der ursprünglich achtzehnmonatigen Einberufungsfrequenz der Bausoldaten zur halbjährlichen Einberufung wie bei den anderen Wehrpflichtigen.
Das MfS betrachtete diese Veränderung wie schon die Aufstellung der Baueinheiten als ein Zugeständnis an die Kirchen in der DDR: „Aufgrund der von kirchlichen Repräsentanten vertretenen Position, dass der Einsatz von Bausoldaten zum Bau von Flugplätzen, Hafenanlagen und anderen militärischen Anlagen 'Gewissenskonflikte' auslöst und ein Einsatz in nichtmilitärischen Objekten zweckmäßiger sei, erfolgte die Auflösung der Baueinheiten und eine Neuregelung des Einsatzes der Bausoldaten.“29 Korrespondierend damit hatte die Sprachregelung von der Toleranz des Staates in den Kirchen weite Verbreitung gefunden: Mehrfach sei während der Herbstsynode der Landeskirche Sachsens 1981 darauf hingewiesen worden, „dass die DDR sehr großzügige Regelungen zum Wehrdienst ohne Waffe geschaffen habe, die nur in geringem Maße genutzt werden“.30 Die Bausoldaten wiederum sahen in der revidierten Einsatzpraxis ihren eigenen Sieg.31 Diese und andere Legenden, Resultate fehlender Transparenz in staatlichen Entscheidungsprozessen, lassen in den jeweiligen Handschriften der Verfasser ihre unterschiedlichen Absichten erkennen. Das Verteidigungsministerium seinerseits wollte dem Risiko oppositioneller Gruppenbildungen entgegenwirken und Befehlsverweigerungen reduzieren.
Während dieser Zeit stieg die Zahl der Bausoldaten und verdreifachte sich schrittweise von anfänglich 200 auf über 600 im Sommer 1981. Ausgelöst von der Einführung des Wehrunterrichts als schulisches Pflichtfach, erklärten junge Männer bei den Musterungen häufiger, einen unbewaffneten Wehrdienst ableisten zu wollen. Um das erheblich größere Quantum zu bewältigen, mussten die Gruppen in den Kasernen vergrößert und in verschiedenen weiteren Objekten zusätzlich Bausoldaten untergebracht werden.32 Die in immer größerer Zahl im Armeealltag präsenten unbewaffneten Bausoldaten erregten Ärgernis. Offiziere beschwerten sich über deren angebliche „Vergünstigungen [...], die sich nachteilig auf die Wehrbereitschaft eines Teiles unserer jungen Generation“ auswirkten. Unbeeindruckt davon oder von der stärker werdenden Aktivität der kirchlicher Gruppen und einiger Repräsentanten der Kirchen wegen Raketenstationierung, Friedensbewegung und des erwarteten neuen Wehrdienstgesetzes, sah die SED-Führung keinen Handlungsbedarf. SED-Generalsekretär Erich Honecker erklärte 1981, an der Anordnung „über den waffenlosen Dienst der Bausoldaten“ werde festgehalten.33
Die Zuwächse konnten nicht länger ignoriert werden. Erneut setzte die Armeeführung die Mehrzahl der Bausoldaten konzentriert in separaten Einheiten und auf Großbaustellen ein. Sie mussten in den folgenden Jahren körperlich anstrengende, teilweise gesundheitsschädliche Tätigkeiten in der chemischen Industrie und an weiteren Schwerpunkten wie dem Bau des Containerfährhafens Mukran durchführen. Ausgehend davon, dass der Bausoldatendienst weniger attraktiv sei, wenn die Bausoldaten zu harter Arbeit herangezogen würden, erwartete das Verteidigungsministerium rückläufige Zahlen.34 Wie andere Hoffnungen der Partei- und Staatsführung in der DDR erfüllte sich auch diese Prognose nicht.
Seit 1980 veränderte sich merklich die Stimmungslage unter den jungen Wehrpflichtigen, ablesbar an Argumenten, die sie bei der Musterung gegen die von ihnen erwartete Selbstverpflichtung für eine längere Wehrdienstzeit vorbrachten. Die Äußerungen verdeutlichten eine geringe Akzeptanz der NVA und die Tendenz, dass Ausreisewillige und andere Jugendliche ohne dezidiert religiöse Motivation zunehmend den bewaffneten Wehrdienst ablehnten. Sie äußerten gelegentlich, sie hätten zum „Kriegspielen keine Lust“ und „jeder in der NVA ist einer zuviel“, jedenfalls seien sie der Meinung: „Bausoldat – das genügt“. Außerdem hielten sie einen Frieden ohne Waffen für sicherer und wollten statt einer freiwillig verlängerten Wehrdienstzeit so rasch wie möglich ihre „persönliche Freiheit“ zurückerlangen. Der Satz: „Ich diene nur, weil ich muss“, verwies mit der Absage an das Weltbild der SED-Führung auf grundsätzlich geänderte Zukunftsvorstellungen der Jugend.35
Trotz Überwachung durch die Staatssicherheit36 und die Offiziere in den Diensteinheiten konnten weder das MfS noch die NVA-Führung die friedensethisch ausgerichtete Politisierung zahlreicher Bausoldaten aufhalten. Die Staatssicherheit betrachtete Bausoldaten als „feindliche“ Gruppierung und die Bemühungen anderer kirchlichen Gruppen um einen Sozialen Friedensdienst als politische „Gegenaktionen negativer kirchlicher Kreise gegen die sozialistische Wehrerziehung“.37 In Berichten der NVA hieß es über die Mehrheit der Bausoldaten, sie lasse eine politische Grundhaltung erkennen, die sich gegen die SED-Politik richte. Das zeige sich an gesteuerten Protesten und an der geringen Wahlbeteiligung. Obwohl die Bausoldaten allgemein politische Auffälligkeiten vermieden, erfordere die „potentielle Möglichkeit zur Bildung feindlicher Plattformen […] ein Höchstmaß von politischer Wachsamkeit, die strikte Isolierung der Bausoldaten von Armeeangehörigen und Beschäftigten sowie die volle Ausschöpfung der gesetzlichen Festlegungen und Dienstvorschriften zur Unterbindung jeglicher feindlicher Aktivität“.38
III. Vergleichende Überlegungen zu den Auswirkungen der Verweigerung39
In der DDR waren Bausoldaten und Wehrdiensttotalverweigerer zu jeder Zeit eine kleine und oft übersehene Minderheit, anders in der Bundesrepublik Deutschland, wo Zivildienstleistende sich lautstark bemerkbar machten und wo sich Anträge auf Kriegsdienstverweigerung zu mehreren Hunderttausend summierten. Allerdings dauerte es bis 1977, als die Zahl der Antragsteller spektakulär auf 70 000 innerhalb eines Jahres anstieg.40 Trotz der beträchtlichen Unterschiede in den Dimensionen der Zahlen lassen sich in beiden Fällen reflexive Wechselwirkungen zwischen den individuellen Gewissensentscheidungen und der Gesellschaft nachweisen.
Indem der Nationale Verteidigungsrat der DDR 1964 mit der Einrichtung des waffenlosen Wehrdienstes die vom sozialistischen Weltbild abweichenden Friedensvorstellungen nolens volens für rechtmäßig erklärte, trug er der besonderen deutschen Vergangenheit Rechnung. Doch zu keinem Zeitpunkt bestand die Absicht, einen Zivildienst einzurichten. Die SED-Führung hielt es für geboten, Gewissensvorbehalte nicht in jedem Fall zu kriminalisieren. Sie wollte nicht massenhaft Märtyrer schaffen und in der westlichen Presse angeprangert werden wegen der in höherer Zahl zu Haftstrafen verurteilten Verweigerer, sie wollte die Wehrpflicht durchsetzen. Die Einrichtung eines zivilen Ersatzdienstes unterließ sie aus Sorge um die personelle Auffüllung der NVA. Stattdessen lavierte sie beharrlich zwischen Verfolgung und Legalisierung der Pazifisten. Obwohl in der Bundesrepublik während der ersten Jahre des Zivildienstes der Umgang mit den Verweigerern gleichfalls zwischen Deklassierung und Akzeptanz oszillierte, wandelte sich im Lauf der Jahre die Einstellung zu Achtung und Anerkennung.
Der Dienst in den Baueinheiten der NVA war kein Wehrersatzdienst, sondern ein „Waffenersatzdienst“, und weil er militärische Vorhaben unterstützte, führte er zu schweren Gewissenskonflikten. Die Bausoldatenanordnung von 1964 hatte eine Doppelfunktion. Sie regulierte pazifistisches Engagement und schwächte es einerseits, andererseits entzog sie es den Augen der Öffentlichkeit. Die Kontroversen zwischen Pazifisten und der Staatsgewalt fanden für längere Zeit nicht mehr wahrnehmbar hinter Kasernenmauern statt – dort wurden wie allen anderen Zivilpersonen nicht einmal Ortspfarrern Besuche gestattet. In den Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten konnten Soldaten generell keinerlei Beistand beanspruchen. Ferner ermöglichte die gesetzliche Regelung des waffenlosen Wehrdienstes den Militär- und Justizbehörden der DDR die Verfolgung aller, die sich dem Dienst in den Baueinheiten widersetzten. Gleichwohl entwickelte sich die Institution „Staatsbürger Bausoldat“41 für die SED-Führung zu einer ideologischen Herausforderung.
Gewissenskonflikte bewirkten die Politisierung vieler Bausoldaten. Bei Totalverweigerern wollten Wehrbehörden und Gerichte weder die religiöse Motivation noch Gewissensvorbehalte billigen, sie unterstellten staatsfeindliche Haltungen. Die Strafandrohung und -verfolgung diente dazu, der "sichtbaren Tendenz entgegenzuwirken, den Wehrdienst zu verweigern bzw. unberechtigte Anträge auf Dienst in den Baueinheiten zu stellen".42 Vergleichbar sollte in der Bundesrepublik die restriktive Behandlung der Zivildienstleistenden potentielle Kriegsdienstverweigerer abschrecken. Eine langfristige Wirksamkeit lässt sich für keine der Abschreckungsmaßnahmen nachweisen. Insbesondere bei den Zeugen Jehovas führten Haftstrafen keinen Sinneswandel herbei. Obgleich sich das rasch herausstellte, verurteilten die Gerichte in der DDR diese Verweigerer in präventiver Absicht. Mehrfachverurteilungen erfolgten nicht.43 Insgesamt gab es etwa 6 000 Totalverweigerer. Annähernd die Hälfte von ihnen, mehrheitlich Zeugen Jehovas, wurde zu Strafen bis zu teilweise über 24 Monaten Haft verurteilt, Verweigerer des Reservistendienstes zu vier bis sechs Monaten. Letzteren als „gedienten“ Soldaten wurde das Recht abgesprochen, den Waffendienst zu verweigern. Doch nicht alle der 500 bis 800 Reserveverweigerer wurden strafrechtlich belangt. Kirchenleitungen setzten sich für sie nach 1980 mitunter erfolgreich ein.
Verurteilungen und Haftstrafen zielten auf Abschreckung und Ausgrenzung, um eine Ausweitung der Verweigerung zu verhindern. Die seit 1985 unterlassene Inhaftierung der Totalverweigerer in der DDR verweist auf eine pragmatische und realistische Beurteilung der Situation durch die Verantwortlichen. Sie reagierten darauf, dass die Haftandrohung keinen Sinneswandel der Betroffenen herbeiführte und erwarteten, dass die fehlende Öffentlichkeit einer grassierenden Nachahmung vorbeugen würde. Die Willkür beendeten sie indessen nicht und hielten die Strafandrohung aufrecht. Der Versuch der SED-Führung, Pazifisten in die Gesellschaft zu integrieren, erschöpfte sich in der Bausoldatenanordnung. In schwerer Diskriminierung und erheblicher Rechtsunsicherheit bestanden gravierende Unterschiede zur Situation der Wehr- und Kriegsdienstverweigerer in der Bundesrepublik.
Bausoldaten kannten hingegen kein belastendes und kostspieliges, auf Einschüchterung zielendes Anerkennungsverfahren wie die Mehrheit der Zivildienstleistenden bis 1984. Die Verfassung der Bundesrepublik erlaubte letztendlich keine massive und planmäßige staatliche Willkür. Die Institutionen des demokratischen Staates, nicht zuletzt die Öffentlichkeit selbst, begrenzten behördliche Übergriffe auf Personen. Sie verhinderten nicht Eingriffe in die und Verletzungen der Grundrechte, jedoch die systematische Radikalisierung repressiver Methoden. Gerichte verurteilten Zivildienstverweigerer zu vorerst halbjährigen Haftstrafen. Nach deren Verbüßung konnten die Betreffenden, ebenfalls überwiegend Zeugen Jehovas, für das gleiche Delikt erneut belangt werden. Das Prozedere zog sich in der Regel so lange hin, bis die addierten Haftzeiten etwa der Dauer der Wehr- und Zivildienstzeit entsprachen.44 Erst 1968 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Mehrfachverurteilungen für verfassungswidrig. Ungeachtet der grundsätzlichen Rechtssicherheit bestand aber die ungünstigere Rechtsstellung kriegsdienstverweigernder Bundeswehrangehöriger fort.45
Solche Rechtssicherheit existierte in der DDR nicht im Entferntesten. Obgleich Gesetze die Willkür einschränkten, überformten politische Erwägungen ihre Anwendung. Wiederholt lehnten Musterungskommissionen Anträge auf Dienst in den Baueinheiten ohne Begründung ab.46 Die Bestimmungen der Auffüllungsordnung der NVA, Grundlage für die Einberufungen, besaßen vertraulichen Charakter und wurden nach 1982 unter Mitwirkung des MfS durch geheime Zusätze verschärft. Die nicht nachvollziehbaren Entscheidungen der Wehrkreiskommandos veranlassten den Vizepräsidenten des Obersten Gerichts der DDR, bei Ablehnung trotz vorliegender Bereitschaft zum Bausoldatendienst von Rechtswidrigkeit zu sprechen – folgenlos.47
In vergleichbarer Ungewissheit befanden sich die Totalverweigerer, für die nicht absehbar war, ob sie inhaftiert würden. Die Vollzugsorgane verhafteten im Frühjahr 1988 nach einer Absprache zwischen Honecker, dem Verteidigungsministerium und dem MfS 50 Wehrdienstverweigerer, um sie nach einigen Tagen Untersuchungshaft wieder freizulassen. Die Absicht, sie zu verurteilen, wurde ebenso aufgegeben wie die geplante Einberufung weiterer potentieller Verweigerer: Auf Basis einer „Festlegung, nicht mehr als 50 Wehrpflichtige einzuberufen, die wegen Verweigerung des Wehrdienstes strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden sollen“, zogen die Wehrkreiskommandos die Einberufungsbefehle zurück.48
In diesen unmittelbaren Folgen und in den weiteren Auswirkungen der Verweigerung auf persönliche Schicksale existierten beträchtliche Unterschiede zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Die dienstverweigernden Wehrpflichtigen mussten, in der DDR immer, in der Bundesrepublik zeit- und situationsabhängig unterschiedlich, für ihre Überzeugung einstehen und gegebenenfalls Konsequenzen ertragen, ohne jedoch mit dem Schlimmsten rechnen zu müssen. Die SED-Führung bedrohte sämtliche Wehrdienstverweigerer mit Haft und inhaftierte einige tausend von ihnen. Mit dem Aussetzen der Strafverfolgung verringerte sich die Repressionslast, die Unsicherheit blieb. Waffenverweigernde Pazifisten mussten sich mit einem unzweckmäßigen Kompromiss in den Baueinheiten der NVA abfinden. Strafverfolgung, Herabsetzung und Diffamierung gab es in der Bundesrepublik entschieden seltener als in der DDR. In unterschiedlichem Ausmaß erforderte die Verweigerung Überzeugung, Standhaftigkeit und Mut – in beiden Staaten gingen die Behörden gegen Verweigerer vor, sie mussten kollektive Diskriminierungen und häufig individuelle Benachteiligung in Kauf nehmen.49
Unter Bausoldaten und Zivildienstleistenden entwickelten sich in der DDR und in der Bundesrepublik politische Diskurse oft in Verbindung mit religiösen Prinzipien oder friedensethischen Einstellungen, und daraus politische Haltungen der Verweigerer. Diese fanden in teilweise oppositionellen Aktionen Ausdruck. Die Unterschiede darauf in den staatlichen Reaktionen waren charakteristisch für die politischen Systeme der Bundesrepublik und der DDR. Während die bundesdeutsche Gesellschaft im Zusammenhang der Diskurse und Kontroversen mittelfristig die Pazifisten integrierte, betrachtete die SED-Führung sie bis zum Ende als oppositionelle Systemgegner. Unverändert hielt sie an der unzutreffenden Annahme fest, dass sie es mit Staatsfeinden zu tun habe.
Die langfristigen Folgen der Individualisierungsprozesse, die zeitversetzt beide Gruppen in beiden Gesellschaften betrafen, gleichen sich mehr als dass sie sich unterscheiden.50 Das galt sogar für die Feindbilder von SED- und NVA-Führung und der bundesdeutschen Ministerialbürokratie in ihren Blicken auf die jeweiligen Verweigerer des bewaffneten und des unbewaffneten Wehrdienstes. Zeitweilig wiesen sie zahlreiche Gemeinsamkeiten auf. Ideologische Zuschreibungen bestimmten die Sicht der Verantwortlichen, mit einem entscheidenden Unterschied: Die Perspektive in der Bundesrepublik änderte sich.
Während das Zivildienstgesetz seinem Zweck entsprechend für die Gewissensbedenken einer Mehrzahl der Wehrpflichtigen eine Alternative bereitstellte, erfüllten die Bausoldatenanordnung und die Baueinheiten ihre Funktion nicht. Der für viele Betroffene in der DDR inakzeptable Kompromiss vermochte nicht das Protestpotential unter den Bausoldaten zu neutralisieren. Die Baueinheiten – eigentlich eine von der NVA-Führung geschaffene Einrichtung zur Lösung eines politischen Problems der SED – wurden zu einem Problem der NVA und die Bausoldaten zu einem politischen Problem der SED. Die Restriktionen konnten nicht verhindern, dass sie ein tragender Faktor der unabhängigen DDR-Friedensbewegung wurden, wobei weniger von der Verweigerungsbewegung eine Gefährdung der SED-Herrschaft ausging als vielmehr von deren institutioneller Unfähigkeit, die Protestierenden zu integrieren. Dagegen erreichten die Institutionen der Bundesrepublik die Integration der Pazifisten in die Gesellschaft. Sie schufen zeitgemäße Rahmenbedingungen und transformierten das Protestpotential in soziale Arbeit.
Bausoldaten und Zivildienstleistende nahmen Handlungsoptionen wahr – unter teils erschwerten Bedingungen. In beiden Fällen zeigte sich, dass individuelle Gewissensentscheidungen nicht bloße Entscheidungen von Einzelnen waren. Ihr Potential wies über die Person hinaus, es stieß Emanzipationsprozesse an. Bausoldaten und Zivildienstleistende trugen mit ihrem Protest gegen eine Ideologie zur Veränderung der Gesellschaft bei. Gewissensentscheidungen beschleunigten Prozesse und verstärkten Bewegungen, die durch staatliche Gegenmaßnahmen anders als der nationalsozialistische Terror gegen Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten nicht aufgehalten werden konnten. Beide Bewegungen, die der Bausoldaten und jene der Zivildienstleistenden, bezogen sich auf die Gewissensentscheidungen der Verweigerer im Zweiten Weltkrieg. Deren Widerstand gegen den Krieg hat lange als vergeblich gegolten, eine Auffassung, die in kritischer Auseinandersetzung mit der Nachkriegszeit korrigiert und neubewertet wurde.51 Mit ihrem historischen Rückbezug auf die Kriegsdienstverweigerer und Deserteure stellten Bausoldaten und Zivildienstleistende ihren Protest in deren Tradition und beteiligten sich daran, das Erbe in die Meinungsbildungsprozesse in der DDR und in der Bundesrepublik aufzunehmen.
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1 Die Verfassung der Deutschen demokratischen [sic!] Republik. Mit einer Einleitung von Dr. Karl Steinhoff, Ministerpräsident der Landesregierung Brandenburg, Berlin 1949, S. 31.
2 Anordnung des Nationalen Verteidigungsrates der Deutschen Demokratischen Republik über die Aufstellung von Baueinheiten im Bereich des Ministeriums für Nationale Verteidigung vom 7.9.1964. In: Gesetzblatt der DDR Teil I, Nr. 2 vom 16.9.1964.
3 Weitere Quellen- und Literaturangaben in: Thomas Widera, Die DDR-Bausoldaten. Politischer Protest gegen die SED-Diktatur, Erfurt 2014. Weiterführende Literatur (Auswahl): Bernd Eisenfeld/Peter Schicketanz, Bausoldaten in der DDR. Die „Zusammenführung feindlich-negativer Kräfte“ in der NVA, Berlin 2011; Andreas Pausch, Waffendienstverweigerung in der DDR. ... das einzig mögliche und vor dem Volk noch vertretbare Zugeständnis, Leipzig 2004; Thomas Widera (Hg.), Pazifisten in Uniform. Die Bausoldaten im Spannungsfeld der SED-Politik 1964-1989, Göttingen 2004.
4 Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert, Göttingen 2006, S. 79 f.
5 Vgl. Torsten Diedrich, Gegen Aufrüstung, Volksunterdrückung und politische Gängelei. Widerstandsverhalten und politische Verfolgung in der Aufbau- und Konsolidierungsphase der DDR-Streitkräfte 1948 bis 1968. In: Rüdiger Wenzke (Hg.), Staatsfeinde in Uniform? Widerständiges Verhalten und politische Verfolgung in der NVA, Berlin 2005, S. 31-195, hier 147 ff.
6 Vgl. Johanna Vogel, Kirche und Wiederbewaffnung. Die Haltung der Evangelischen Kirche in Deutschland in den Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik 1949-1956, Göttingen 1978.
7 Vgl. Kirche und Kriegsdienstverweigerung. Ratschlag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland mit Begründung und dokumentarischem Anhang, München 1956.
8 Gerhard Besier/Stephan Wolf (Hg.), „Pfarrer, Christen und Katholiken“. Das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR und die Kirchen. 2., durchgesehene und um weitere Dokumente vermehrte Auflage, Neukirchen-Vluyn 1992, S. 31 und 883.
9 Hagen Findeis/Detlef Pollack (Hg.), Selbstbewahrung oder Selbstverlust. Bischöfe und Repräsentanten der evangelischen Kirchen in der DDR über ihr Leben. 17 Interviews, Berlin 1999 S. 38-67; vgl. Hagen Findeis, Das Licht des Evangeliums und das Zwielicht der Politik. Kirchliche Karrieren in der DDR, Frankfurt a.M. 2002, S. 33-69.
10 Findeis/Pollack, Selbstbewahrung oder Selbstverlust, S. 68-103.
11 Schreiben Bischof Jänickes von Dezember 1961 (Material Christfried Berger, Bd. I/E, nicht paginiert).
12 Information über eine Aussprache mit Angehörigen des Wehrersatzdienstes der Baubataillone in Garz/Usedom unter Leitung von Bischof Krummacher am 24.1.1965 im Gemeindehaus in Zirchow/Usedom vom 29.1.1965 (Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR [nachfolgend BStU], HA XX/4 2777, Bl. 9).
13 Vgl. Gerhard Besier, Der SED-Staat und die Kirche. Der Weg in die Anpassung, München 1993, S. 279 f.
14 Der Vorsitzende der Konferenz der Kirchenleitungen der Gliedkirchen der DDR, Friedrich-Wilhelm Krummacher, an den Vorsitzenden des Ministerrats Otto Grotewohl, und Aktenvermerk vom 12.3.1962 (Landeskirchenarchiv Dresden, Bestand 2, 309, Bl. 79 ff.).
15 Niklas Luhmann, Die Gewissensfreiheit und das Gewissen. In: Archiv des öffentlichen Rechts, 90 (1965), S. 257-286, hier 281.
16 Vgl. Thomas Widera, Gewissen in der Systemkonfrontation - Pazifisten in der DDR zwischen Kirche und Staat. In: Mike Schmeitzner/Heinrich Wiedemann (Hg.), Mut zur Freiheit. Ein Leben voller Projekte. Festschrift zum 80. Geburtstag von Wolfgang Marcus, Berlin 2007, S. 249-266.
17 Vgl. Eisenfeld/Schicketanz, Bausoldaten in der DDR, S. 110-127.
18 Vgl. Hans-Hermann Dirksen, „Keine Gnade den Feinden unserer Republik“. Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR 1945-1990, Berlin 2001, S. 785.
19 Arbeitsunterlage für ein Gutachten des Arbeitskreises für Wehrdienstfragen vom 3.5.1965 (Material Christfried Berger, Bd. I/D, nicht paginiert).
20 Vgl. Peter Schicketanz, Die Reaktionen der Evangelischen Kirchen auf die Anordnung über die Aufstellung von Baueinheiten 1964-1966. In: Widera, Pazifisten in Uniform, S. 13-41.
21 Vgl. Anke Silomon, „Schwerter zu Pflugscharen“ und die DDR. Die Friedensarbeit der evangelischen Kirchen in der DDR im Rahmen der Friedensdekaden 1980-1982, Göttingen 1999.
22 Friedemann Stengel, Die reformatorische Bewegung und der Krieg. In: Friedenszeugnis ohne Gew(a)ehr – Die Kirche und der Krieg. (Bausoldatenkongress 2014 der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt, Lutherstadt Wittenberg, 5.-7.9.2014.) epd-Dokumentation Nr. 4, Frankfurt a.M. 2015, S. 22-30, hier 23.
23 Vgl. Eisenfeld/Schicketanz, Bausoldaten in der DDR, S. 343-351.
24 Vgl. Thomas Widera, Staatsbürger in Uniform – Bausoldaten und Friedliche Revolution. In: Friedenszeugnis ohne Gew(a)ehr, S. 6-15.
25 Erklärung der Prenzlauer Bausoldaten nach Beendigung des ersten Durchganges der Baueinheiten, April 1966 (Material Christfried Berger, AG ehemaliger Bausoldaten, nicht paginiert).
26 Vgl. Joachim Garstecki, Zeitansage Umkehr. Dokumentation eines Aufbruchs, Stuttgart 1990.
27 Vgl. Matthias Kluge, Das Christliche Friedensseminar Königswalde bei Werdau. Ein Beitrag zu den Ursprüngen der ostdeutschen Friedensbewegung in Sachsen, Leipzig 2004.
28 Anordnung 31/75 des Stellvertreters des Ministers und Chef des Hauptstabes über die Einberufung und den Einsatz von Bausoldaten vom 4.7.1975 (Bundesarchiv-Militärarchiv [nachfolgend BA-MA], AZN/30186, Bl. 70-76); Festlegungen über die Einberufung und den Einsatz von Bausoldaten vom 23.6.1975 (ebd., Bl. 77-83).
29 Fachschulabschlussarbeit Hauptmann Herbert Heßmann: Die Bedeutung und grundsätzliche Ziele der Aufklärung der Bausoldaten der NVA zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung aller Anzeichen und Erscheinungsformen der politischen Untergrundtätigkeit und die sich daraus ergebenden Anforderungen der Suche, Auswahl und Gewinnung von IM unter den Bausoldaten vom 31.5.1984 (BStU, JHS 704/84, Bl. 6)
30 Information über die kirchenpolitische Situation im Bezirk Dresden vom 30.11.1981 (Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Bezirkstag/Rat des Bezirkes Dresden, 11028, Bl. 25).
31 Brief von Bausoldaten undatiert [1978] (Matthias-Domaschk-Archiv, RSch 02, nicht paginiert).
32 Anordnung 20/78 des Stellvertreters des Ministers und Chef des Hauptstabes über die Einberufung und den Einsatz von Bausoldaten vom 19.4.1978 (BA-MA, AZN/30196, Bl. 201-208).
33 Kollegiumsvorlage Nr. 32/81 zum Einsatz der Bausoldaten, 30.11.1981 (BA-MA, DVW 1/55626, Bl. 71); Protokoll der Sitzung des Kollegiums des Ministeriums für Nationale Verteidigung vom 26.11.1981 (ebd., Bl. 27).
34 Befehl 45/82 über den Einsatz von Bausoldaten sowie die Erfüllung von Sicherstellungsaufgaben vom 16.6.1982 (BA-MA, DVW 1/67041, Bl. 104-113); Information von Verteidigungsminister Hoffmann an Honecker über die Wehrdienstverweigerung vom 2.12.1982 (BA-MA, AZN/32644, Bl. 244-247).
35 Sonderinformation des WBK Dresden über Erscheinungen der ideologischen Diversion vom 12.11.1984 (BA-MA, VA-10-P/1996, Bl. 141-152).
36 Vgl. Stephan Wolf, Bausoldaten im Visier der Staatssicherheit: „Alle organisatorischen Maßnahmen der NVA sind geeignet, für unsere Arbeit genutzt zu werden“. In: Widera, Pazifisten in Uniform, S. 115-149.
37 Stellungnahme zur Information über weitere Aktivitäten evangelischer kirchlicher Kreise zur Einrichtung eines „Sozialen Friedensdienstes“, o.D. [Ende 1981/Anfang 1982] (BStU, MfS-HA XX/4 1439, Bl. 162).
38 Stellvertreter des Leiters der Politabteilung, Einschätzung der Einwirkungen der ideologischen Diversion des Klassengegners im Bereich Spezialbauwesen sowie der Effektivität der politischen Arbeit zu ihrer offensiven Zerschlagung im bisherigen Verlauf des Ausbildungsjahres 1980/81 vom 14.7.1981 (BA-MA, AZN/31124, Bl. 10-21).
39 Zur nachfolgenden Argumentation ausführlich Thomas Widera, Kriegsdienstverweigerung und staatliche Herrschaft. NS-Regime – SED-Staat – Bundesrepublik Deutschland. In: Totalitarismus und Demokratie, 5 (2008), S. 391-416.
40 Die Vergleichsangaben zum Zivildienst in der Bundesrepublik basieren auf der exzellenten Untersuchung von Patrick Bernhard, Zivildienst zwischen Reform und Revolte. Eine bundesdeutsche Institution im gesellschaftlichen Wandel 1961-1982, München 2005.
41 Vgl. Widera, Staatsbürger in Uniform, S. 11 f.
42 Information von Verteidigungsminister Hoffmann an Honecker über die Wehrdienstverweigerung vom 2.12.1982 (BA-MA, AZN/32644, Bl. 244-247).
43 Dirksen, Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR, S. 758; Dirksen erwähnt lediglich einen Fall, ebd., S. 770.
44 Vgl. Bernhard, Zivildienst, S. 61 f.
45 Ebd., S. 104 f. und 177 ff.
46 Vgl. Uwe Rühle, Aufzeichnungen aus der Bausoldatenkaserne. In: Stefan Wolter (Hg.), Geheime Aufzeichnungen eines Bausoldaten in Prora. Courage in der Kaserne der heutigen Jugendherberge, Halle 2011, S. 49-175, hier 102 f.;
47 Vgl. Rüdiger Wenzke, „Ihre Einberufung erfolgt als Bausoldat.” Interne Festlegungen des DDR-Verteidigungsministeriums für den Umgang mit Waffendienstverweigerern bei Musterungen und Einberufungen in den achtziger Jahren. In: Horch und Guck, 46 (2004), S. 15-19.
48 Keßler an Honecker vom 2.5.1988 (BA/MA, AZN/32661, Bl. 22); Keßler an Honecker vom 6.5.1988 (ebd., Bl. 35-36).
49 Vgl. Ulrich Finckh, Vom heiligen Krieg zur Feindesliebe Jesu. Beiträge zu Rechtsstaat und Friedensethik, Stuttgart 2011; Thomas Widera, Wehrdienstgegner im DDR-Bildungssystem. Konflikte von Schülern, Lehrlingen und Studenten infolge der Verweigerung des bewaffneten Wehrdienstes. In: Gerhard Barkleit/Tina Kwiatkowski-Celofiga (Hg.), Verfolgte Schüler – gebrochene Biographien. Zum Erziehungs- und Bildungssystem der DDR, Dresden 2008, S. 91-112.
50 Vgl. Hendrik Mayer-Magister, Individualisierung als Nebenfolge: Das Engagement des Protestantismus für die Kriegsdienstverweigerung 1949-1973. In: Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte 9 (2015), S. 173–182.
51 Vgl. Wolfram Wette, Deserteure der Wehrmacht rehabilitiert. Ein exemplarischer Meinungswandel in Deutschland (1980–2002). In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 52 (2004), S. 505–527.
Wir feiern heute das sechzigjährige Bestehen der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK). Rechnet man diese 60 Jahre zurück, so kommt man in das Jahr 1956. Das ist mathematisch auch für einen Theologen noch nachvollziehbar. Allerdings sind die konkreten Umstände der Gründung der EAK nach wie vor nicht ganz aufgeklärt. Bereits zum 50. Jubiläum der EAK hat Günter Knebel, der damalige Geschäftsführer, darauf hingewiesen, dass als Gründungsjahr das Jahr 1956 zwar belegt sei, aber es „bisher [...] mangels Präsenz bzw. Einsichtnahme in Primärquellen kein genaues Gründungsdatum [...] ermittelt worden“ sei.1
Es gibt also nach wie vor offene Fragen zur Entstehungsgeschichte der EAK. Ich möchte Ihnen anlässlich des diesjährigen Jubiläums diese offenen Fragen in einem ersten Schritt vorstellen. Ich möchte dann aber vor allem ein Schlaglicht auf die Anfänge der Debatte um die Kriegsdienstverweigerung im bundesdeutschen Protestantismus in der Zeit vor der Gründung der EAK werfen. Dabei präsentiere ich Ihnen einige kleine Ausschnitte aus den Ergebnissen meiner Forschungsarbeit im Rahmen der DFG-Forschergruppe Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland,2 die ich vor allem in meiner Dissertation in einem größeren Zusammenhang präsentieren werden.3 Ich werde dabei einen knappen Blick auf die rechtliche Regelung der Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz werfen und mich dann dem Namensgeber des EAK-Förderpreises Friedrich Siegmund-Schultze zuwenden. In einem weiteren Schritt werde ich mich der protestantischen Diskussion um die Wiederbewaffnung und die Kriegsdienstverweigerung in der ersten Hälfte der 1950er Jahre widmen und dabei auf den erbitterten innerprotestantischen Streit um dieses Thema sowie auf die wichtigsten kirchlichen Verlautbarungen zur Kriegsdienstverweigerung bis 1956 zu sprechen kommen.
Zur Entstehung der EAK
Über die Entstehung der EAK im Jahr 1956 gibt es verschiedene und in Details abweichende Darstellungen. Ich folge zunächst der Darstellung aus der Dissertation Ingo Holzapfels zur Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland (AEJD). Nach Holzapfel wurde im Frühjahr 1956 in der AEJD ein Ausschuss für Kriegsdienstverweigerungsfragen gegründet, in dem die Wurzeln der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer, wie die EAK zunächst hieß, liegen. Konkreter Anlass für die Gründung des Ausschusses sei die bevorstehende Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Sommer 1956 sowie insbesondere der vorangegangene kirchliche Ratschlag zum rechtlichen Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen gewesen – ich werde auf diesen Ratschlag noch zurückkommen. Parallel zu diesem Ausschuss ging aus einem bereits länger bestehenden Ausschuss für Wehrmacht- und Seelsorgefragen im Februar 1956 auch eine Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Soldatenfragen (EAS) hervor, die allerdings schnell wieder an Bedeutung verlor – soweit die Gründungsversion bei Ingo Holzapfel.4
Etwas anders klingt die Gründungsgeschichte bei Johannes Jürgensen, dem Vorsitzenden der AEJD in den 1970er Jahren. Er berichtet, im Januar 1956 sei in der AEJD zunächst ein Ausschuss für Wehrdienstfragen gegründet worden, der sich um die Betreuung von Soldaten und von Kriegsdienstverweigerern gleichermaßen bemühen sollte. Zugleich sei dann auch die EAS gegründet worden – in welchem Zusammenhang bleibt bei Jürgensen allerdings unklar. Die EAK sei dann als Unterausschuss des genannten Ausschusses für Wehrdienstfragen erst im Frühjahr 1957 entstanden.5
Legt man beide Darstellungen nebeneinander, bleibt also unklar, ob die EAK tatsächlich schon 1956 oder aber erst 1957 gegründet wurde und ob die Arbeit in der AEJD zur Betreuung von Soldaten und Kriegsdienstverweigerern von Beginn an getrennt war oder aber institutionell zunächst zusammenhing. Mir erscheint plausibel, dass angesichts der Prominenz des Kriegsdienstverweigerungsthemas in Protestantismus und Gesellschaft, die dieses durch die Wehrgesetzgebung im Jahre 1956 bekam, ein älterer Ausschuss für militärische Fragen in EAS und EAK aufgespalten wurde. Hier ist aber darauf zu hoffen, dass weitere Quellen gefunden und ausgewertet werden können, die diese Sachverhalte aufklären können.
Die prägende Gestalt der EAK in den späten 1950er Jahren war zunächst der Heilbronner Jugendpfarrer Eugen Stöffler, der 1959 auch kurzzeitig den Vorsitz innehatte. Obwohl seit 1957 erste Rüstzeiten für Kriegsdienstverweigerer durchgeführt wurden, war die EAK bis 1960 doch vor allem mit selbstorganisatorischen Fragen und Finanzierungsproblemen beschäftigt. Eine Satzung wurde erst 1959 verabschiedet. 1960 übernahm dann Fritz Eitel den Vorsitz, dessen Engagement, nach Elisabeth Weiser, geradezu zu einer Neukonstitution der Arbeit führte.6 Die eigentliche Erfolgsgeschichte der EAK begann so erst in den 1960er Jahren.
Zu Artikel 4, Absatz 3 des Grundgesetzes
Ausgangspunkt der Diskussion um die Kriegsdienstverweigerung in Protestantismus und Gesellschaft war und ist der dritte Absatz des vierten Artikels des bundesdeutschen Grundgesetzes von 1949 (Art. 4 Abs. 3 GG): „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ Bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat waren es vor allem die zahlreichen Eingaben aus der Bevölkerung, die im Grundsatzausschuss das Thema der Kriegsdienstverweigerung auf die Agenda brachten. Schließlich nahmen sich die SPD-Mitglieder des Ausschusses des Anliegens an, während die Abgeordneten der CDU und FDP skeptisch blieben. Der Kompromiss bestand letztlich darin, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in den Artikel über die Religions- und Gewissensfreiheit zu integrieren. Das erschien vor allem vor dem Hintergrund der jüngsten Erfahrung während der NS-Zeit sinnvoll, als vor allem Anhänger evangelischer Freikirchen – Mennoniten, Quäker und Ernste Bibelforscher (Zeugen Jehovas) – den Kriegsdienst verweigert hatten und dafür wegen Wehrkraftzersetzung umgebracht worden waren. Art. 4 Abs. 3 GG sollte so ein Ausdruck des Friedenswillens der jungen Bonner Republik sein und mehr noch den Einzelnen vor dem totalen Durchgriff des Staates in den innersten Bereich der Persönlichkeit – das Gewissen – schützen.
Dass mit Art. 4 Abs. 3 GG die Kriegsdienstverweigerung an Gewissensvorbehalte geknüpft ist, wurde und wird bisweilen bereits als Einschränkung eines bedingungslosen Kriegsdienstverweigerungsrechtes gesehen, wie es in manchen Landesverfassungen vor dem Grundgesetz festgehalten worden war. Auch die Juristen und Staatsrechtler konnten mit dem Artikel und der Bindung der Kriegsdienstverweigerung an Gewissensgründe zunächst nicht viel anfangen. Die ersten Grundgesetzkommentierungen enthielten sich einer Interpretation und verwiesen auf das angekündigte Ausführungsgesetz. Juristen sprachen von einem dunklen Orakel.7
Zum Engagement Friedrich Siegmund-Schultzes
Die Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) engagierte sich im Verfassungsgebungsprozess der Bundesrepublik nicht für ein Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung. Für sie standen, so hat der Münchener Theologe Reiner Anselm gezeigt, eher Fragen des Staatskirchenrechts, des Lebensschutzes und des Elternrechts im Vordergrund.8
Allerdings gab es durchaus Protestanten, die sich – abseits der Kirche – von Beginn an für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung einsetzten. Zu nennen ist vor allem Friedrich Siegmund-Schultze, der Namensgeber des Förderpreises der EAK. Der 1885 geborene Pfarrer und Theologe, dessen Hauptbetätigungsfeld im Bereich der sozialen Arbeit lag, gilt als Pionier der Ökumene und Friedensarbeit im deutschen Protestantismus. 1914 war Siegmund-Schultze Mitorganisator der Weltkirchenkonferenz in Konstanz. Diese musste, überrascht vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges, vorzeitig abgebrochen werden. Noch auf der Heimreise gründete Siegmund-Schultze zusammen mit dem englischen Quäker Henry Hodgkin – vor der Kulisse der begeistert vom Kölner Bahnhof an die Westfront abfahrenden deutschen Soldaten – den Internationalen Versöhnungsbund. Siegmund-Schultze war über lange Jahre Vorsitzender des deutschen Zweiges des Versöhnungsbundes. Nach dem Zweiten Weltkrieg initiierte Siegmund-Schultze aus dieser Position heraus dann den Zusammenschluss der verschiedenen deutschen Friedensverbände zur Arbeitsgemeinschaft Deutscher Friedensverbände (ADF), deren Vorsitz er zusätzlich übernahm.
In der Literatur findet sich wiederholt der Hinweis, dass Siegmund-Schultze bereits im Vorfeld der Verabschiedung des Grundgesetzes durch informelle Verhandlungen auf das Grundrecht zur Kriegsdienstverweigerung Einfluss genommen habe – leider jeweils ohne weiteren Literatur- oder Quellenverweis.9 Ich habe diesen Einfluss in den von mir eingesehenen Quellen nicht nachvollziehen können – was nicht heißt, dass es ihn nicht gegeben hat. Klar ist aber, dass Siegmund-Schultze sich im Namen der ADF von 1949 an aktiv um die Ausgestaltung des in Art. 4 Abs. 3 GG angekündigten Ausführungsgesetzes zur Kriegsdienstverweigerung bemühte.
1953 wurde der Deutsche Ausschuss für Fragen der Wehrdienstverweigerung unter dem Dach der ADF gegründet. Der Ausschuss erarbeitete in der Folge eine eigene Gesetzesvorlage für ein Ausführungsgesetz von Art. 4 Abs. 3 GG. Zentrale Forderungen waren dabei, dass es keinen Ersatzdienst für einen etwaigen bundesdeutschen Wehrdienst geben dürfe, weil sich aus einem Grundrecht wie der Kriegsdienstverweigerung kein Zwangsdienst – egal in welcher Form – ableiten ließe. Der Name Ersatzdienst suggeriere zudem, der Wehrdienst sei der Normalfall. Interessant ist auch, dass die Mitgliedschaft in einer Friedensorganisation oder -kirche kein hinreichendes Kriterium für eine Gewährung der Kriegsdienstverweigerung sein sollte: Jeder Fall müsse stattdessen einzeln und unabhängig davon, ob die Gewissenvorbehalte religiös oder nicht-religiös begründet waren, behandelt und anerkannt werden. Die Hoffnungen des Ausschusses auf ein von der Wehrpflicht unabhängiges, weitgehendes und bedingungsloses Recht auf Kriegsdienstverweigerung und auf einen eigenständigen und freiwilligen Zivil- und Friedensdienst anstelle des Wehrersatzdienstes wurden aber enttäuscht. Ein eigenes Ausführungsgesetz von Art. 4 Abs. 3 GG kam nicht zustande. Die Ausführungsbestimmungen wurden stattdessen in das Wehrpflichtgesetz von 1956 integriert und ein Ersatzdienst eingerichtet.
Nach diesem deutlichen Dämpfer für die Bestrebungen Siegmund-Schultzes wurde der Ausschuss am 2. März 1957 in die Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer e. V. (Zentralstelle KDV) überführt. Beim Gründungstreffen der Zentralstelle KDV war es nun der bereits erwähnte Eugen Stöffler, der die ebenfalls jüngst gegründete EAK vertrat. Die EAK wurde Mitglied der Zentralstelle und stellte in der Person Ulrich Finckhs von 1971 bis 2003 den Vorsitzenden. Finckh war zugleich auch von 1971 bis 1980 Geschäftsführer der EAK. Auch durch die langjährigen Präsidenten Heinz Kloppenburg und Helmut Simon blieb die Zentralstelle KDV über Jahrzehnte hinweg stark protestantisch geprägt. Die EKD selbst beteiligte sich seit dem Ende der 1950er Jahre finanziell an der Zentralstelle.
Zur Diskussion im kirchlichen Protestantismus
Blickt man nun in einem weiteren Schritt auf die Diskussion um die Kriegsdienstverweigerung im eher kirchlichen Protestantismus, fällt auf, dass die Frage der Kriegsdienstverweigerung in den frühen 1950er Jahren vor allem als Problem im Rahmen der Wiederbewaffnungsdebatte thematisiert wurde.
In der Zeitgeschichtsforschung, hier in einer Formulierung Claudia Lepps, wird der Nachkriegsprotestantismus gerne in „einen lutherisch geprägten Mehrheitsprotestantismus und einen von Karl Barths Theologie beeinflussten Minderheitsprotestantismus“ unterteilt.10 Ein wichtiger Katalysator für diese Lagerbildung war gerade die Wiederbewaffnungsfrage in der Bundesrepublik, die seit 1949/1950 auf der Agenda auftauchte: „Unverhüllt“, so der Kirchenhistoriker Martin Greschat, „traten jetzt erneut auch die Fronten zu Tage, die sich im ‚Kirchenkampf’ in der evangelischen Kirche gebildet hatten, mitsamt den nicht nur theologischen und kirchenpolitischen Gegensätzen, sondern auch den hiermit verwobenen menschlichen Animositäten und Aversionen.“11
Die linksprotestantischen Wiederbewaffnungsgegner und die lutherisch-konservative Wiederbewaffnungsbefürworter
Etwas vereinfachend wird man sagen können, dass eine wohl doch verhältnismäßig kleine aber lautstarke Minderheit des westdeutschen Protestantismus den West- und Wiederbewaffnungskurs der Adenauer-Regierung ablehnte. Man befürchtete, dass die Wiederbewaffnung Westdeutschlands eine zeitnahe Wiedervereinigung mit dem Osten verhindern und das Land an den Rand eines neuen, dritten und atomaren Weltkriegs führen könne. Vertreter einer solchen Position waren etwa Martin Niemöller, Gustav Heinemann, Herbert Mochalski und Ernst Wilm, mit der Zeit auch immer mehr Helmut Gollwitzer. Politisch fand man erst eine Heimat in der Gesamtdeutschen Volkspartei und – nachdem diese bei den Bundestagswahlen 1953 kläglich scheiterte – später in der SPD. Diese so genannten Linksprotestanten versuchten, das Kriegsdienstverweigerungsrecht als Hebel zum politischen Widerstand gegen die Wiederbewaffnungspläne zu nutzen: Wenn Adenauer schon aufrüsten wolle und sich das politisch nicht verhindern ließ, sollte sich wenigstens kein westdeutscher Christ daran beteiligten. Theologisch verortete man sich vor allem in der Tradition des bruderrätlichen Flügels der Bekennenden Kirche (BK) und der Barmer Theologischen Erklärung.
Der wohl doch größere, konservativ-lutherisch geprägte Teil der deutschen Protestanten unterstützte dagegen – mehr oder weniger stillschweigend – den CDU-Kurs nach Westen. Lautstark zu Wort meldeten sich auf dieser Seite etwa der Bad Boller Akademiedirektor Eberhard Müller, die Mitglieder des Kronberger Kreises und der Evangelische Arbeitskreis in der CDU sowie – in verschiedenen Stimmlagen – vor allem Vertreter der im Nationalsozialismus intakt gebliebenen Landeskirchen Bayern, Hannover und Württemberg. Das wohl wichtigste Motiv für die Unterstützung der Westintegrationspolitik Adenauers war der tief verankerte Antibolschewismus im deutschen Protestantismus und die damit verbundene Angst vor einer Invasion der Sowjetunion auch in den Westen Deutschlands. Man befürwortete Adenauers Politik der Stärke, weil man meinte, dass das Ziel der Wiedervereinigung Deutschlands – das man auch hier durchaus teilte – eher durch politischen und militärischen Druck auf die Sowjetunion zu erreichen sei, als durch eine Nachgiebigkeit und Neutralität Deutschlands. Entsprechend schärften diese lutherisch-konservativen Protestanten den Bundesbürgern auch die Gehorsamspflicht gegenüber der Bundesregierung und ihren Anordnungen ein, inklusive der Pflicht, sich an der militärischen Verteidigung zu beteiligen. Das wurde theologisch durch die Theorie des gerechten Krieges gedeckt. Zudem wirkten alte obrigkeitshörige und ordnungstheologische Muster und eine überzogen interpretierte Zwei-Reiche-Lehre nach, deren Wurzeln bis tief in die Theologie der Kaiserzeit nachzuvollziehen sind.
Die exemplarische Kontroverse um die Leverkusener Erklärung
Exemplarisch möchte ich diese Lagerbildung im bundesdeutschen Protestantismus an einer kleinen Kontroverse um die so genannte Leverkusener Erklärung der Kirchlichen Bruderschaft im Rheinland verdeutlichen. Die Kirchliche Bruderschaft stand in der Tradition der Bruderschaft der rheinischen Hilfsprediger und Vikare, also gewissermaßen dem jüngeren Teil der bruderrätlichen BK. Die meisten Mitglieder waren theologische Anhänger Karl Barths. Barth hatte 1946 seinen berühmten Vortrag über Christengemeinde und Bürgergemeinde in ihrem Kreis gehalten. Gerade ab 1953/54 stieg die Bruderschaft zu einer der aktivsten protestantischen Gruppierung in der Opposition gegen die Adenauerpolitik auf. Auf ihrer jährlichen Herbsttagung, die 1954 in Leverkusen stattfand, verabschiedete die Bruderschaft die so genannte Leverkusener Erklärung. Darin kritisierte sie die durch die Unterzeichnung der Pariser Verträge im Oktober 1954 endgültig feststehende Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und die darin zum Ausdruck kommende Politik der Stärke, die sie für den politisch falschen Weg hielt.12 Dann heißt es:
„Die Zuspitzung der Lage zwingt uns heute zu der Erklärung, daß wir diesen Weg aus Gründen des Gewissens ablehnen und unter den gegenwärtigen Umständen einer Einberufung zum Wehrdienst nicht folgen können. Wir berufen uns hierbei auf das Grundgesetz, das jedem Staatsbürger in Artikel 4, Abs. 3 das Recht zusichert, den Kriegsdienst mit der Waffe aus Gründen des Gewissens zu verweigern.“13
Der explizit für falsch gehaltene politische Weg der Adenauer-Regierung wird damit abgelehnt, dies als Gewissensfrage formatiert und dann als Grund ins Spiel gebracht, sich mit Berufung auf Art. 4 Abs. 3 GG einer Einberufung zum Wehrdienst zu verweigern. Damit, bezieht sich die Kirchliche Bruderschaft explizit auf politisch-situative Motive, die in der Ablehnung der Regierungspolitik liegen, um den Wehrdienst in den aufzustellenden deutschen Streitkräften zu verweigern.
Das ist die eine Seite der Diskussion. Auf der anderen Seite steht paradigmatisch der Erlanger Professor für Systematische Theologie Walter Künneth. Künneth widersprach der Leverkusener Erklärung in den Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern scharf: Solche Erklärungen seien „Zeichen theologischer Hybris“, stellten einen „Einbruch schwarmgeistiger Elemente“ dar und seien gespickt mit „pseudotheologischen Behauptungen“ – etwa, dass die Politik der Stärke dem Willen Gottes widerspreche. Darin liege eine Vermischung politischer Sachentscheidungen und geistlicher Fragen, eine „Verwechslung von kirchlicher und politischer Verantwortung, eine Vermischung von Kirche und Politik“.14 Stattdessen betont Künneth die Zwei-Regimenten-Lehre und setzt seine theologischen Ankerpunkte in der „Frage nach der Obrigkeit“ und der „Frage nach den ‚Ordnungen Gottes’“. Es gebe politische Ermessenfragen, so Künneth, wie die Frage nach Wiederbewaffnung und Wehrdienst, die mit der Vernunft und nicht aus dem Glauben entschieden werden müssten. Es sei die Pflicht des Staates sich zu verteidigen und dies begründe auch einen so genannten „Regelfall des Wehrdienstes“, „so daß es nicht in das Ermessen des einzelnen Staatsbürgers gestellt ist, den Wehrdienst zu bejahen oder zu verneinen.“15 Weiter heißt es:
„Gemäß der obrigkeitlichen Machtordnung des Staates wagt es Augustana 16 von einem ‚iure bellare und militare’ zu sprechen, also eine Entscheidung zu treffen, die auch heute für Christen, wollen sie nicht den Boden des Bekenntnisses verlassen, keineswegs außer Kraft gesetzt ist. Daraus ergibt sich die schlichte Gehorsamspflicht des Christen ohne ‚Wenn und Aber’, in dem Bewußtsein zum Werk der Erhaltung gerufen zu sein. Eine Wehrdienstbefolgung, die jeweils in das Belieben des einzelnen gestellt wäre, müßte grundsätzlich zu einer Bedrohung der Rechtsordnung führen und den Weg für Anarchie und Nihilismus bereiten.“16
Soweit also die lutherisch-konservative Gegenseite. Deutlich wird, wie Künneth hier gerade unter absoluter Absehung von allen politisch-situativen Überlegungen und aus vermeintlich überzeitlichen, theologischen Motiven heraus vehement für die Erfüllung der Wehrpflicht argumentiert.
Insgesamt werden die völlig konträren Argumentationsmuster auf beiden Seiten und auch die Schärfe und der Ton der Debatte deutlich. Man erkennt auch gut, dass die Frage der Kriegsdienstverweigerung eingebettet in die Frage der Wiederbewaffnung diskutiert wurde, bei der die Flügel des bundesdeutschen Protestantismus in der EKD so weit auseinanderklafften, dass schließlich die Kirchengemeinschaft in der EKD auf dem Spiel stand. Gerade angesichts dieser Konstellation erscheint es interessant, noch auf die kirchlichen Stellungnahmen zur Kriegsdienstverweigerung zu blicken, was ich in einem letzten Schritt tun möchte.
Die kirchlichen Stellungnahmen
Zu einer ersten kirchlichen Verlautbarung zur Kriegsdienstverweigerung kam es bereits auf der Synode der EKD in Berlin-Weißensee im April 1950. Dort wurde ein Friedenswort verabschiedet, das, den generellen Friedenswillen der deutschen Kirche bekundete. Es ist angesichts der schon zu diesem Zeitpunkt scharfen innerprotestantischen Kontroverse über die Wiederbewaffnungspläne der Bundesrepublik wohl nicht ganz zu Unrecht als „Ansammlung theologischer Richtigkeiten und politischer Allgemeinplätze“ und als „Zeugnis tiefer politischer Ratlosigkeit“ beschrieben worden.17
Im Bereich der Kriegsdienstverweigerung betrat die Kirche allerdings Neuland. Angesichts eines drohenden deutsch-deutschen Bruderkrieges zeigte sich die Kirche zum ersten Mal aufgeschlossen für eine christliche Kriegsdienstverweigerung und sicherte zu, dass Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen „der Fürsprache und der Fürbitte der Kirche gewiß sein“ könnten.18 Das war tatsächlich eine fundamentale Wendung, wenn man bedenkt, dass noch mitten im Zweiten Weltkrieg, im Jahre 1941, der spätere Hannoveraner Bischof Hanns Lilje den Krieg als geistige Leistung gepriesen hatte, in dem der Christ wahre existenzielle Erfahrungen machen könne, die im Zivilleben nicht möglich seien.19 Umso plastischer aber – und je nach Interpretation vielleicht auch paradoxer – wird die vollzogene Wendung, wenn man sich noch dazu vor Augen hält, dass die Formulierung „Fürsprache und Fürbitte der Kirche“ für die Kriegsdienstverweigerer ihren Ursprung offenbar im Eröffnungsvortrag der Synode von Berlin-Weißensee hat – die eben jener Bischof Hanns Lilje gehalten hatte.20
Johanna Vogel resümiert in ihrer Studie zu Kirche und Wiederbewaffnung das Friedenswort der EKD von Weißensee daher treffend mit den Worten:
„Es bleibt ein unbestreitbares Verdienst der EKD, daß sie an dieser Stelle die frühere Haltung der Kirche revidiert und durch ihr praktisches Engagement für die Kriegsdienstverweigerer mit dazu beigetragen hat, die Ablehnung des Kriegsdienstes mit der Waffe als christliche Möglichkeit verständlich zu machen. [...] Die ‚Ersatzfunktion’, die das Engagement der EKD für die Kriegsdienstverweigerer im Rahmen der Auseinandersetzungen um die Frage der Wiederbewaffnung hatte, darf dabei freilich nicht übersehen werden.“21
Die zweite wichtige Verlautbarung der EKD zur Frage der Kriegsdienstverweigerung ist der bereits erwähnte Ratschlag zur gesetzlichen Regelung des Schutzes der Kriegsdienstverweigerer. Der Ratschlag wurde von einem Ausschuss für Fragen der Kriegsdienstverweigerung erarbeitet, der auf der EKD-Synode im Sommer 1955 in Espelkamp angesichts der bevorstehenden Wehrpflichtgesetzgebung gegründet wurde. Treibende Kraft war der Oberkirchenrat und spätere Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland Joachim Beckmann, der später auch der Beauftragte der EKD für Kriegsdienstverweigerungsfragen wurde. Der Ratschlag wurde im Dezember 1955 vom Rat der EKD angenommen und kurz darauf publiziert.
In ihrem Ratschlag formulierte die Kirche ihre Forderungen an die Wehrgesetzgebung. Sie begrüßt, dass die Ausführungsbestimmungen zu Art. 4 Abs. 3 GG in das Wehrpflichtgesetz integriert würden – wogegen etwa Friedrich Siegmund-Schultze immer gekämpft hatte. Der Schutz der Verweigerer müsse ferner nicht nur im Kriegsfall gelten, sondern auch die Ausbildung im Frieden umfassen. Die zuständigen Stellen, die über die Anträge zu befinden hätten, sollten unabhängig von den Wehrbehörden sein. Anträge auf Kriegsdienstverweigerung müssten auch nach der Einberufung weiterhin möglich bleiben. Es müssten Möglichkeiten der Seelsorge an den Verweigerern eingerichtet werden. Schließlich wurde ein Ersatzdienst mit gleichen Belastungen oder aber ein Friedensdienst gefordert. Jegliche gesellschaftliche Benachteiligung von Kriegsdienstverweigerern sei auszuschließen.22
In der Literatur wird der Ratschlag in aller Regel als erfolgreiche Einflussnahme der EKD auf die Politik interpretiert. Auch Fritz Eitel, der Vorsitzende der EAK in den 1960er Jahren, meinte, der Ratschlag sei „vom Gesetzgeber weitgehend berücksichtigt“ worden.23 Richtig ist, dass der Ratschlag in den parlamentarischen Debatten eine wichtige Rolle spielte und sich viele Forderungen der Kirche auch im Wehrpflichtgesetz wiederfanden. Schaut man allerdings näher hin, wird deutlich, dass die genannten Forderungen der EKD schon vor Verabschiedung des Ratschlags auch im Verteidigungsministerium nicht mehr umstritten waren. Zwei Forderungen des Ratschlages wurde im Wehrgesetz allerdings nicht berücksichtigt: die Forderung eines echten Friedensdienstes sowie die Forderung zur Ermöglichung einer situativen Kriegsdienstverweigerung, die die EKD vor dem Hintergrund der sich jeweils in konkreten Situationen zu Wort meldenden christlichen Gewissensstimme anmahnte.24 Nach Paragraph 25 des Wehrpflichtgesetzes wurde nur eine grundsätzliche Gewaltlosigkeit als legitimer Verweigerungsgrund anerkannt. Hier erlitt die EKD eine deutliche Niederlage, wie auch Eitel unumwunden zugesteht.25
Zusammengenommen erscheint der Ratschlag damit – das ist die These mit der ich hier enden möchte – gar nicht mehr als so großer Erfolg kirchlicher Einflussnahme auf die Politik: Die Punkte, die er vermeintlich durchsetzte, waren politisch ohnehin nicht mehr umstritten, die strittige Forderung nach einer situativen Kriegsdienstverweigerung fand kein Gehör. So kann man den Ratschlag auch als Beispiel eines gescheiterten Vermittlungsversuchs einer protestantischen Gewissensvorstellung in den politischen Bereich betrachten: Für die Juristen und Politiker, die sich mit dem Wehrpflichtgesetz beschäftigten, war eine situative Kriegsdienstverweigerung ein rotes Tuch, weil sie diese als Möglichkeit einer nachträglichen Abstimmung über die Legitimität eines etwaigen Kriegsfalls einschätzten. Das Problem der situativen Kriegsdienstverweigerung im Prozess der Wehrgesetzgebung zeigt gerade die Inkongruenz der juristischen und protestantischen Perspektiven auf die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen: Die Möglichkeit den Kriegsdienst situativ zu verweigern, die die Kirche forderte, blieb auf der Strecke zwischen juristisch-politischer Staatstheorie und protestantischer Friedensethik.26
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1 Vgl. Günter Knebel: Anmerkungen zum Gründungsjahr. Namen und Amtszeiten der Vorsitzenden, in: Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (Hg.): NEIN zu Krieg und Militär – JA zu Friedensdiensten. 50 Jahre evangelische Arbeit für Kriegsdienstverweigerer, Bremen 2007, S. 39-44, hier: S. 39-40, Zitat: S. 40.
2 Vgl. www.for1765.de
3 Vgl. dazu bereits: Hendrik Meyer-Magister: Individualisierung als Nebenfolge. Das Engagement des Protestantismus für die Kriegsdienstverweigerung in den 1950er Jahren, in: Christian Albrecht und Reiner Anselm (Hgg.): Teilnehmende Zeitgenossenschaft. Studien zum Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989 (Religion in der Bundesrepublik Deutschland 1), Tübingen 2015, S. 327-367; Hendrik Meyer-Magister: Individualisierung als Nebenfolge: Das Engagement des Protestantismus für die Kriegsdienstverweigerung 1949-1973, in: MkiZ 9(2015), S. 173-181.
4 Vgl. Ingo Holzapfel: Bindung und Freiheit. Die Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend Deutschlands von 1949 bis 1969, Wuppertal 2001, S. 301-303.
5 Vgl. Johannes Jürgensen: Die ersten fünfzehn Jahre der Nachkriegszeit, in: Ulrich Schwab (Hg.): Geschichte der evangelischen Jugendarbeit. Teil 2: Vom Wiederaufbau zur Wiedervereinigung. Evangelische Jugend in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1995, S. 13-64, hier: S. 44; Vgl. auch: Ulrich Finckh: NS-Erbe Wehrpflicht – NS Entlastung Wehrpflicht. Ein Rückblick auf die Anfänge der EAK nach 50 Jahren, in: Evangelische Arbeitsgemeinschaft zur Betreuung der Kriegsdienstverweigerer (Hg.): NEIN zu Krieg und Militär – JA zu Friedensdiensten. 50 Jahre evangelische Arbeit für Kriegsdienstverweigerer, Bremen 2007, S. 83-90, hier S. 90.
6 Elisabeth Weiser (Hg.): Freiheit und Bindung. Beiträge zur Situation der evangelischen Jugendarbeit in Deutschland, München 1963, S. 256.
7 Vgl. dazu: Hendrik Meyer-Magister und Tobias Schieder: Zwischen Staatstheorie und Friedensethik. Zur Inkongruenz zweier Perspektiven auf ein Grundsatzproblem des Wehrpflichtgesetzes von 1956, in: ZevKr 61(2016), S. 162-190, hier: S. 165-167.
8 Vgl. Reiner Anselm: Verchristlichung der Gesellschaft? Zur Rolle des Protestantismus in den Verfassungsdiskussionen beider deutscher Staaten 1948/49, in: Jochen-Christoph Kaiser und Anselm Doering Manteuffel (Hgg.): Christentum und politische Verantwortung. Kirchen im Nachkriegsdeutschland (Konfession und Gesellschaft 2) Stuttgart 1990, S. 83-87, hier: S.87.
9 Vgl. Friedrich Siegmund-Schultze: Inventarverzeichnis des Ökumenischen Archivs in Soest (Westfalen) (Soester Wissenschaftliche Beiträge 22), Soest 1962, S. 20; Hans Gressel: Friedrich Siegmund-Schultze. Ein Pionier der Friedensbewegung, in: Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer (Hg.): Die Freiheit, Nein zu sagen. Vom Recht der Kriegsdienstverweigerer 1957-1982, Freiburg i. Br. 1983, S. 11-29, hier: S. 21; Heinz Kloppenburg: Die innerdeutsche Friedensarbeit Siegmund-Schultzes, in: Ernst Bornemann et al. (Hgg.): Lebendige Ökumene. Festschrift für Friedrich Siegmund-Schultze zum 80. Geburtstag von Freunden und Mitarbeitern, Witten 1965, S. 51-57, hier: S. 57; Klaus Rehbein: Friedrich-Siegmund-Schultze: Wahrheit leben, in: Christa Stache: Friedrich Siegmund-Schultze 1885-1969. Begleitbuch zu einer Ausstellung anlässlich seines 100. Geburtstags (Veröffentlichungen des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin 2), Berlin 1985, S. 13-38, hier: S. 31.
10 Claudia Lepp: Entwicklungsetappen der Evangelischen Kirche, in: Dies. und Kurt Nowak (Hgg): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland: (1945-1989/90), Göttingen 2001, S. 46-93, hier: S. 48-49, Zitat: ebd.
11 Martin Greschat: Der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland 1945-2005, Leipzig 2011, hier: S. 37.
12 Vgl. Erklärung der kirchlichen Bruderschaft im Rheinland, beschlossen im November 1954 in Leverkusen, abgedruckt in: Kirche und Kriegsdienstverweigerung. Ratschlag zur gesetzlichen Regelung des Schutzes der Kriegsdienstverweigerer, erstattet durch den vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland eingesetzten Ausschuss und vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland angenommen, München 1956, S. 57-58.
13 ebd., S. 57.
14 Vgl. Walter Künneth: Theologische Thesen zur Frage der Wiederaufrüstung und des Wehrdienstes, in: NELKB 10/6(1955), S. 85-88, hier: S. 85-86, Zitate: ebd.
15 Vgl. ebd., S. 86-87, Zitate: ebd.
16 Ebd., S. 87.
17 Greschat, a.a.O., S. 36.
18 Wort der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland „Was kann die Kirche für den Frieden tun?“ (Weißensee 1950), abgedruckt in: Kirche und Kriegsdienstverweigerung. Ratschlag zur gesetzlichen Regelung des Schutzes der Kriegsdienstverweigerer, erstattet durch den vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland eingesetzten Ausschuss und vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland angenommen, München 1956, S. 33-36, hier: S. 36.
19 Hanns Lilje: Der Krieg als geistige Leistung, Berlin 1941.
20 Vgl. Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.): Berlin-Weissensee 1950. Bericht über die zweite Tagung der ersten Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vom 23.-27. April 1950, Hannover 1952, S. 96.
21 Johanna Vogel: Kirche und Wiederbewaffnung. Die Haltung der Evangelischen Kirche in Deutschland in den Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik 1949-1956 (Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte B/4), Göttingen 1978, S. 223.
22 Vgl. Ratschlag zur gesetzlichen Regelung zum Schutze der Kriegsdienstverweigerer, in: Kirche und Kriegsdienstverweigerung. Ratschlag zur gesetzlichen Regelung des Schutzes der Kriegsdienstverweigerer, erstattet durch den vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland eingesetzten Ausschuss und vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland angenommen, München 1956, S. 9-11.
23 Vgl. Fritz Eitel: Kriegsdienstverweigerung/Zivildienst. Anwälte einer notwendigen Zukunft, in: Hans-Wolfgang Heßler (Hg.): Kirche in der Gesellschaft. Der evangelische Beitrag 78/79 (Geschichte und Staat 223-225), München 1978, S. 230-242, hier: S. 232.
24 Vgl. Ratschlag zur gesetzlichen Regelung zum Schutze der Kriegsdienstverweigerer, a.a.O., S. 10 und 11.
25 Eitel, a.a.O., S. 232.
26 Vgl. dazu auch : Meyer-Magister / Schieder: a.a.O.
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